Um nicht ganz vom Thema (Thema?) dieses Blogs abzustreifen, hier mal wieder ein Beitrag für die Gitarrenfraktion. Über eine Band, die Mitte der 90er auszog, die deutschsprachige Musikszene veränderte und dabei genau diese so verabscheute. Tocotronic waren Protagonisten einer Jugendbewegung, die den Turnschuhminister ins Auswärtige Amt beförderte und sich jetzt fragt, was aus ihr geworden ist — was sich ebenso in der Musik der Tocos wiederspiegelt.
Alle erwähnten Lieder sind in meiner Plattensammlung — oder, wenn der Weg nach Dresden zu weit ist, bei Ladotunes als kostenflichtiger MP3/Ogg-Download — erhältlich. Bei Amazon kann man wie üblich probehören.
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5. »Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht« (Nach der Verlorenen Zeit, 1995)
Nicht nur, dass ich den Titel demnächst laut gröhlend vor mich hinsingen werde, während ich den Einfluss von Alter auf die Trinkfestigkeit austeste. Sondern auch das: »Ich bin zu jung, um meine Biographie zu schreiben, und zu alt, um ewig jung zu bleiben.« Philosophie inklusive »Ooooooaaaaaahhhhhhhhh« und Geschrammel auf glatten 2 Minuten.
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4. »This Boy is Tocotronic« (Tocotronic, 2002)
Yes, this is Pop. Oder Stadionrock, wie man das auch nennen will. Inklusive mit den Zähnen auf den unteren Saiten herumnudeln. Und als Aussage (ausnahmsweise) nur die, dass wir doch auch tocotronic sind. Quasi die Fortsetzung der Jugendbewegung mit Massenkompabilität. Was nichts böses ist.
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3. »Der schönste Tag in meinem Leben« (Es ist egal, aber, 1997)
Ihre Instrumentenvirtuosität, Stimmbeherrschung und der Hang zu Melodieverliebtheit hat die (alten) Tocotronicplatten sicher nicht geprägt. Stattdessen war es der Text, der in Verbindung mit der Musik irgendwie genau das ausdrückte, was man selbst in trauter Zweisamkeit mit seiner Bierflasche (oder Freundin) empfand. Und hier: Das Warten auf, das Wissen von, der Herbeisehnen eines der schönsten Refrains, den Rockmusik zu bieten hat. Gewartete Ewigkeit, gestoppte anderthalb Minuten.
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2. »Aber hier leben, nein danke« (Pure Vernunft Darf Niemals Siegen, 2005)
Kritik, die daraus besteht, alle schönen, kleinen Dinge aufzuzählen, die man so sehr mag, um dann ein Alles Scheiße! hinterherzurotzen, kann eigentlich nicht funktionieren. Eigentlich. Weil wir wissen, was sie wirklich sagen wollen — beziehungsweise, was sie nicht sagen wollen, geht das sogar sehr gut, wenn auch nicht mehr mit Geschrammel, sondern im Tagtraummodus.
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1. »Gott sei Dank, haben wir beide uns gehabt« (Nach der Verlorenen Zeit, 1995, oder besser: 10th Anniversary, 2003)
»Du siehst ja selber hier verändert sich nichts groß« — Ja! — »Nur die eine Kneipe, wo man hingehn mag.« — Ja! — »Gott sei Dank, haben wir beide uns gehabt!«… Eine Ode an die Freundschaft, gegen die Spießigkeit der Masse, über Kleinstadtmief und Berlinhass. Wer da nichts wiedererkennt, hatte vielleicht eine bessere, aber auch deutlich langweiligere Kindheit. Bei mir trifft jede Zeile, so dass ich in entsprechender Gemütslaune auch gerne sentimental werde. Tipp: in der Rockversion der 10th Anniversary anhören.
Als Bonustrack wurde das tragische »Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört« gewählt, das als Nachruf in der taz abgedruckt Morddrohungen hervorrief und heute von der Band nicht mehr gespielt wird.